Natürlich wollen wir evangelistisch sein. Dennoch: Evangelisation ist umstritten, längst auch mitten innerhalb der „christlichen Szene“. Matthias Clausen über den Ruf der evangelistischen Kirche und wie Evangelisation heutzutage in unseren Gemeinden passieren kann.
Klar kann man fragen: Warum soll er eigentlich so schlecht sein, der „Ruf der evangelistischen Gemeinde“? Wenn es heißt, sie ist „besser als ihr Ruf “, muss das wohl betont werden. Es wirkt aber seltsam unentspannt, wenn man sich schon im Voraus für das entschuldigt, was man doch vertreten möchte. „Ja, ich bin Christ, aber …“ murmelt man dann, „ich bin ganz normal.“ Hat das wer bezweifelt?
Deswegen also, frei heraus: Natürlich wollen wir „evangelistisch“ sein. Was auch sonst! „Evangelistisch“ kommt ja von Evangelium, griechisch euangelion, eine rundum gute Nachricht. In der Antike zur Zeit des Neuen Testaments war euangelion eingeführter Begriff für gerne ganz normale, „unfromme“ frohe Botschaften: ein politischer Erfolg, das Ende einer Krise, ein großer Sieg. Wir müssen lange zurückdenken, wie das war: als Deutschland zum letzten Mal Fußballweltmeister wurde. Ja, das wurde es tatsächlich mal. Allein das Halbfinale war für die Geschichtsbücher (und wenn ich Aufmunterung brauche, schaue ich mir noch heute gern alle acht Tore auf Youtube an). Dieses Gefühl also hält das Wort euangelion fest. Davon sollten Gemeinden und christliche Kommunikation geprägt sein. Damit müssen wir uns weiß Gott (ganz wörtlich: Gott weiß es) nicht verstecken.
Trotzdem ist die Absicherung verständlich. Denn Evangelisation ist eben umstritten, längst auch mitten innerhalb der „christlichen Szene“. Ich halte mich zwar sonst eher raus aus rein internen Debatten – weil ich mich viel lieber damit befasse, Nichtglaubende zum Evangelium einzuladen. Ich sehe aber ein, dass eine kurze Klarstellung sinnvoll ist, entlang an gängigen Einwänden:
Dahinter kann die Sorge stehen: Andere Leute aktiv zum Glauben führen zu wollen sei schon an sich aufdringlich. Eine Frau auf einer Gemeindefreizeit sagte vor kurzem: Mit ihren Verwandten rede sie ja auch nicht über Parteipolitik, und genauso wenig über den Glauben. Das käme ihr indiskret vor. Gerade wer andere tatsächlich gewinnen will, wird daher behutsam sein, eher Fragen stellen und viel zuhören. Niemand wird ja dadurch gewonnen, dass man auf ihn einredet, das bewirkt eher das Gegenteil. Deswegen darf echte Evangelisation auch nie manipulativ sein: Denn Manipulation bedeutet, Menschen durch Tricks zu etwas zu überreden, das sie im Rückblick möglicherweise bereuen. Daran können wir kein Interesse haben. Wir möchten Menschen ja dafür gewinnen, ihr ganzes Leben mit Jesus zu leben. Wer nur emotional überwältigt wurde, dessen Glaube wird aber kaum so nachhaltig sein.
Über Jahrzehnte gab es hier teils eine ungesunde Einseitigkeit, als käme es ausschließlich auf die Verkündigung an und nicht auf Diakonie und soziales Engagement. Sünde kann aber auch in ungerechten gesellschaftlichen Strukturen wohnen. Wir sind nur dann glaubwürdig, wenn wir auch das ansprechen und aktiv mithelfen, die Welt gerechter zu machen und die Natur zu schützen. Verkündigung und Engagement gehören also zusammen; beide gemeinsam bezeugen, an welchen Gott wir glauben.
Alles richtig. Nur, ganz ehrlich: Das so zu betonen ist inzwischen Standard. Die weltweite evangelikale Bewegung hat die soziale Verantwortung schon in den 1970er Jahren wieder entdeckt, festgehalten in der „Lausanner Verpflichtung“. Klar besteht hier wie üblich ein großer Unterschied zwischen Theorie und Praxis, Überzeugung und Umsetzung. Aber der Sache nach sind sich fast alle einig.
Man braucht also nicht von der anderen Seite vom Pferd zu fallen: Als käme es nur noch auf unser soziales Engagement an. Wäre das so, wäre Gemeinde nicht mehr unterscheidbar von anderen sozialen Einrichtungen, bis auf die religiösen Labels. So hat Jesus es aber nicht gemeint: Wir bezeugen ihn, in Tat und Wort. Bezeugen heißt zeigen; wir zeigen von uns weg auf ihn. Wir können Gottes Reich nämlich nicht selbst machen, das kann nur Gott. Deswegen braucht es evangelistische Verkündigung: Nicht weil unser Handeln egal wäre, sondern weil Gottes Handeln wichtiger ist als unseres, und von diesem Handeln Gottes sprechen wir.
Vielleicht ist das der wirksamste Einwand: „Ich habe nichts gegen Evangelisation,“ sagt man dann, „aber … bringt es das? All das Geld, die Zeit, die Arbeitskraft, die man in evangelistische Aktionen steckt?“ Berechtigte Frage. Gemeinden sollten nüchtern und selbstkritisch schauen, welche Angebote nur gut aussehen und welche davon tatsächlich Menschen erreichen.
Das spricht aber nicht gegen Evangelisation an sich, sondern höchstens gegen ihre Beschränkung auf bestimmte Formen. Evangelisation ist nämlich sehr vielfältig. Sie umfasst alles, bei dem nicht-glaubende Menschen zum Glauben an Jesus eingeladen werden. Sie beginnt also meist mit dem persönlichen Gespräch und endet längst nicht bei der großen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung (wobei auch die deutlich besser ist als ihr Ruf, das lässt sich empirisch nachweisen). Beide Seiten brauchen einander: Die großen Angebote brauchen das Netzwerk persönlicher Beziehungen vor Ort, damit die Moderatoren nachher nicht sagen müssen: „Meine Damen und Herren, liebe Stühle!“
Aber, ganz wichtig: Auch der persönliche Kontakt braucht die öffentliche Reichweite großer Formen, denn so wird klar: Worüber wir sprechen, ist nicht nur die private Idee eines einzelnen, der zufällig etwas „Besonderes“ glaubt. Es ist Stadtgespräch, auch andere glauben daran, manche davon sind sogar bekannt als Wissenschaftler, Politiker, Sportler … Öffentliche Evangelisation kann so das Klima verbessern, in dem Gespräche über den Glauben stattfinden.
Trotzdem braucht es Geduld, gerade in unseren Breitengraden. Evangelisation heißt hier meist Wegbegleitung auf der Langstrecke. „It takes a village to raise a child“, sagt ein altes Sprichwort, „es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen“. Genauso braucht es meist ein ganzes Team an Christen, die einen einzelnen Menschen auf dem Weg zum Glauben begleiten, oft über Jahre (auch das ist empirisch belegbar). Es braucht also Geduld, aber es lohnt sich. Wer nur bei einem einzelnen Menschen miterlebt hat, wie es „Klick“ machte, wie er vielleicht im Rückblick sagt: „Warum habe ich das nicht früher begriffen …“ – der möchte das immer wieder erleben.
Man könnte jetzt aktuelle evangelistische Formate vorstellen, mit ihren Einsatzmöglichkeiten. Ich mag es, wenn es so konkret wird. Es lohnt sich aber, zuerst einen Schritt zurückzutreten: Wie werden Gemeinden (wieder, stärker) evangelistisch? Was hilft ihnen dabei? Dazu folgende drei Vorschläge:
Vor kurzem ist der bekannte New Yorker Pastor und Buchautor Timothy Keller verstorben. Eins seiner wichtigsten Bücher ist „Center Church. Kirche in der Stadt“. 400 Seiten stark, gespickt mit theologischer Weisheit und erfahrungsgesättigt, zum Thema wachsende Gemeinde in der Großstadt. Das Buch beginnt mit der Rückbesinnung auf das euangelion, die gute Nachricht von Jesus. Alle großen geistlichen Aufbrüche der Geschichte, so Keller, haben so angefangen: dass wir uns neu erinnern an das, was Jesus für uns getan hat. Dass wir es neu unterscheiden lernen von Gesetzlichkeit („wir können es machen“) und Libertinismus („alles ist egal“).
Bei der Rückbesinnung geht es also weniger um neue Informationen, sondern um ausgleichende Gerechtigkeit: Wir leben in einem Umfeld, dem Glaube vielfach egal ist. Ob wir wollen oder nicht, das prägt uns, kann uns im Gespräch unsicher machen. Da braucht es die bewusste Erinnerung: Es ist doch eine gute Nachricht, die wir weitergeben. Keine falsche Scheu also.
Manchen der oben genannten Einwände begegne ich immer wieder, seit Jahren. Dabei lassen sie sich meines Erachtens leicht ausräumen – mit etwas Kenntnis der Bibel, der Geschichte der Kirche, der wichtigsten Argumente. Theologische Information ist eben nicht für den Elfenbeinturm, sondern hat ihren Nutzwert …
Wir brauchen also weiterhin Leute, mindestens eine Person pro Gemeinde, die sich hier qualifizieren lassen, sich Zeit nehmen für die Vorbereitung auf Predigt und Gemeindeleitung. Und wir brauchen weiter eine theologische Ausbildung, die solide Information mit Begeisterung am Glauben verbindet (Verzeihung für den Werbeblock).
Erfahrungsgemäß gibt es mehr Menschen mit einer Begabung für das evangelistische Gespräch und für die evangelistische Predigt, als es ihnen selbst bewusst ist. Gaben merkt man nämlich nur, wenn man sie in der Praxis ausprobiert und von anderen Rückmeldung bekommt. (Vorher denkt man vielleicht, was man kann, sei normal.) Und Gaben liegen auch nicht fertig vor, sondern entwickeln sich erst „am lebenden Objekt“, in der Praxis der Kommunikation.
Wir brauchen also Gemeinden, die Menschen ermutigt: „Probiert es aus!“ Natürlich brauchen evangelistische Gespräche Behutsamkeit, bestehen viel aus Zuhören. Sie entstehen aber auch kaum von selbst, sondern brauchen die eigene Initiative. Zum Beispiel, indem man andere fragt: „Was glaubst du eigentlich? Was ist dir wichtig?“ Oder, noch gewitzter, wie der Hans-Georg Filker von der Berliner Stadtmission: „Was glaubst du eigentlich, was ich glaube?“ Ein interessanter Auftakt.
Und wir brauchen Gemeinden, die ihre jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermutigt: „Wenn ihr evangelistisch predigen möchtet, wenn ihr ein Herz dafür habt, andere zum Glauben einzuladen – probiert es aus! Wir begleiten und coachen euch, und wenn ihr merkt: Das wollen wir langfristig machen – dann unterstützen wir auch eure Ausbildung.“
Evangelistisch predigen lässt sich nämlich lernen: das Evangelium verständlich und zum Kontext passend sagen, es plausibel begründen und rhetorisch würzen, spannend und packend davon erzählen – das alles kann man einüben und trainieren, und damit macht man sich und anderen eine große Freude.
Prof. Dr. Matthias Clausen, Karl Heim-Professor für Evangelisation und Apologetik an der Ev. Hochschule Tabor (Marburg) und Referent beim Institut für Glaube und Wissenschaft (IGUW). www.iguw.de
Dieser Erfahrungsbericht erschien bereits 2023 in 3E, dem Ideenmagazin für die evangelische Kirche. Jede Ausgabe will Christinnen und Christen begeistern, die Chancen und Stärken von Gemeinden zu nutzen, um das Evangelium zu verkünden.
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